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Home Aus Briefen Über den Umgangston in Kiel (Feb. 1942) Zwei Briefe und eine Erklärung von Oskar Perron (1946)
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 Dr. Fritz Lettenmeyer (1891-1953)
 Aus Briefen

Rückblick und Ausblick zur beruflichen Arbeit (Frühjahr 1943)

Das folgende ist der unvollständige Durchschlag (Anfang und Schluß fehlen) eines Briefes aus dem Nachlaß, laut handschriftlicher Notiz von F.L. "an Strömgren, Kopenhagen – wegen der Zensur ist alles viel zu mild und vieles nicht gesagt".

Bei dem Empfänger handelt es sich vermutlich um den Astronomen Elis Strömgren (1870-1947). Strömgren ist auch in Fritz Lettenmeyers Publikation "Das Experiment in der Mathematik" erwähnt.

Das Wort "Nachkriegsgeneration" bezieht sich auf den ersten Weltkrieg.


Wie manchen der "Nachkriegsgeneration" der Hochschullehrer war mir eine freie Zeit wissenschaftlichen Arbeitens, wie es früher die Privatdozentenjahre in der Regel und auch ihrem Sinne nach darstellten, im allgemeinen nicht beschieden. Zwar bin ich nach Beendigung des eigentlichen Studiums und der Promotion (in München bei Lindemann) für einige Semester nach Göttingen gegangen, das vor 1914 einen so großen mathematischen Ruf hatte, aber davon hatte ich nicht das, was früher an dieser Universität geboten und erreicht wurde. Abgesehen davon, daß ich nach dem Verlust des elterlichen Vermögens durch die Inflation mir diese Semester unter ungünstigen Umständen verdienen mußte, war in den Nachkriegsjahren (1920-21) in Göttingen nicht mehr viel los. Klein las damals nur noch privat für einen kleinen Kreis und auch an Hilbert fand ich trotz meiner Münchner Empfehlungsbriefe keinen Anschluß. Der einzige, bei dem ich wirklich viel hinzulernte und dem ich auch menschlich für seine Teilnahme zu Dank verpflichtet bin, ist Landau gewesen.

Vor dieser Zeit war ich zwei Semester an der Technischen Hochschule München Assistent, und hernach drei Semester Assistent in Königsberg. Dann bekam ich die Assistentenstelle an der Universität München, die ich bis 1936 innehatte. Diese Münchner Jahre hätten meine wissenschaftlich beste Zeit sein sollen, aber ich war, wenigstens in den ersten 10 Jahren, durch die Verpflichtungen der Assistentenstelle (einziger Assistent dreier Ordinarien) völlig in Anspruch genommen. Das waren die Jahre mit dem großen Studentenandrang; 150-200 Hörer in den Hauptvorlesungen, wie Differentialrechnung, Algebra, Funktionentheorie usw.

Nachdem infolge der Eigenart des damaligen bayerischen Staatsexamens (14 Tage Klausurarbeiten) die Studenten auf ausgiebiges Training im Aufgabenlösen angewiesen waren, kam ich, der ich die Korrekturen der eingelieferten Übungsarbeiten zu erledigen hatte, aus dem Korrigieren von Heften überhaupt nicht mehr heraus. Dazu kam nach meiner Habilitation nebenbei die eigene Vorlesungstätigkeit. Ich wundere mich nachträglich, daß doch eine wenn auch nicht umfangreiche Reihe von Arbeiten entstanden ist. Diese lagen allerdings gar nicht auf dem Gebiet meines besonderen Interesses, der Zahlentheorie.

Von meiner Studentenzeit her war ich in einige zahlentheoretische Probleme verbissen, die mich viele Jahre lang vergeblich beschäftigt haben und an denen ich heute noch zeitweise arbeite. Das ist die Frage nach einer genaueren asymptotischen Abschätzung der Anzahl der Gitterpunkte in gewissen, auch mehrdimensionalen Bereichen, z.B. in einem rechtwinkeligen Tetraeder. Damit hängt eng zusammen die Frage nach der Anzahl der Zahlen der Form (ich nehme einen Spezialfall) 2α 3β 4γ, wo α, β, γ natürliche Zahlen bedeuten, unter einer gegebenen Schranke ξ. (Denn 2α 3β 4γ ≤ ξ ist gleichbedeutend mit α lg 2 + β lg 3 + γ lg 5 ≤ lg ξ, und das bedeutet, daß der Gitterpunkt α, β, γ im Oktanten x ≤ 0, y ≤ 0, z ≤ 0 unterhalb der Ebene x lg 2 + y lg 3 + z lg 5 = lg ξ liegen soll.)

In dieser analytischen Formulierung ist das Problem, dem ich viele numerische Versuche gewidmet habe, in meiner Ihnen bekannten Abhandlung (S. 80-82 des Neudruckes) dargestellt und Näheres über die Fragestellung angegeben. Die erste Frage, auf die man dabei stößt, ist die nach einer Aussage über die Lage der Zahlen h, 2h, 3h, 4h, ..., wenn man sich diese Zahlen als Längen auf einen Kreis vom Umfang Eins aufgewickelt denkt. Für irrationale h ist dies ein "Gleichverteilungssatz", der zuerst für astronomische Zwecke von Bohl bewiesen worden ist (ich glaube in den neunziger Jahren, kann es aber im Moment nicht nachschlagen, da ich von meinem gesamten wissenschaftlichen Material nur das, was ich gerade brauche, in der Wohnung habe, während alles andere im Keller verstaut ist; man muß dann bei jeder Gelegenheit vier Treppen tief und hoch steigen, wenn man etwas nachschlagen will). Ich habe jetzt einen einfachen und völlig elementaren Beweis für diesen Satz, er ist aber nicht publiziert.

Diese Probleme haben mir Jahre gekostet und ich mußte sie zurückstellen, wenn ich an eine wissenschaftliche "Karriere" denken wollte. Ich verdanke es den Anregungen des Herrn Perron in München, daß ich mich anderen Gebieten zuwandte, wo nun in der Tat viel leichter "etwas zu machen" war, aber meine wahre Liebe gehört heute noch diesen und anderen zahlentheoretischen und zahlengeometrischen Fragen, und immer, wenn ich glaube mir eine Erholung leisten zu können, kehre ich zu diesen Problemen auf kürzer und manchmal auch länger zurück. Leider wird heute von den meisten ein Mathematiker nur nach der Anzahl seiner gedruckten Arbeiten, mögen sie auch noch so an den Haaren herbeigezogen sein, eingeschätzt, und viele meiner Gleichzeitigen sind eher zu Amt und Würden gekommen als ich, der erst mit 46 Jahren in eine gesicherte Stellung kam.

Da sich die Arbeit des Mathematikers am stillen Schreibtisch vollzieht, waren die Münchener Jahre bereits eine Zeit der Isolierung für mich. Zu einem gesellschaftlichen Verkehr zog man an einer so großen Universität die Assistenten nicht heran. Das Leben an einer kleinen Universität ist, Erzählungen von Kollegen nach, schöner und auch menschlich reicher gewesen, speziell auch das Verhältnis des Privatdozenten zum Chef.

So kam ich mit gewissen Hoffnungen 1936 hierher [nach Kiel], nachdem ich in den vorhergehenden Jahren noch Manches in meiner Eigenschaft als Privatdozent zu erdulden hatte. Ich fand in H., der das zweite Ordinariat hier hatte, einen angenehmen Kollegen vor; dann waren als Dozenten hier der aus der hiesigen Gegend stammende R.S., der bald danach auf die a.o. Professur für darstellende Geometrie an die Universität München berufen wurde, und der sehr begabte Dozent A.S., ein abstrakter Algebraiker. Zufällig waren diese Kollegen alle unverheiratet, was zu meinem Fremdbleiben natürlich sehr beigetragen hat; von einem gesellschaftlichen Verkehr, wie er altüberkommenen Vorstellungen entspricht (ich meine auch Familienverkehr) war keine Rede.

Was das wissenschaftliche Leben betrifft, so macht sich in folgendem ein Unterschied etwa gegenüber dem mir von München her Gewohnten bemerkbar: Hier in Norddeutschland (jetzt so viel ich weiß auch im ganzen Reich) haben die künftigen Lehrer an höheren Schulen, wenn sie Mathematik im Hauptfach haben, noch mindestens zwei Beifächer, z.B. Geographie und Biologie, oder noch divergentere Zusammenstellungen. So kann sich der Studierende nicht der Mathematik mit jener Hingabe widmen, wie es in anderen Verhältnissen üblich war.

Es gibt also nicht jenen Stamm fortgeschrittener Hörer, mit denen man etwa ein Seminar über aktuelle moderne Forschungsgebiete abhalten könnte. Das soll kein Vorwurf sein, unsere Studenten arbeiten aufs Intensivste, aber bei ihrer Belastung mit drei selbständigen Wissenschaften und allen möglichen anderen Dingen fehlt ihnen einfach die Zeit, um über die bloße Vorbereitung aufs Examen hinaus sich in schwierige mathematische Dinge, die auch eine zeitraubende Hingabe erfordern, einzuarbeiten. Eine Assistentenstelle gibt es am hiesigen mathematischen Seminar noch nicht.

Nun ist 1941 mein Kollege H. gestorben und 1942 der Dozent S., der als Mathematiklehrer auswärts Dienst leistete. So bin ich seit langer Zeit völlig allein in den stillen Räumen unseres Seminars. Die Professur H. ist zwar nach längerer Pause durch einen jüngeren Herrn aus Jena, Dr. W., besetzt worden, der aber wegen Wehrmachtsverpflichtungen nicht hierher übersiedelt ist. Er hat zwar im vorigen Winter Vorlesungen gehalten, zu denen er immer auf einige Tage hierher reiste (sodaß ich persönlich nichts von ihm hatte), in diesem Semester ist er gar nicht hier. Ich hatte von jeher Sympathie für den Jenaer Universitätsbetrieb, der mir wegen der engen Verbindung mit den Wissenschaftlern des Zeißwerkes besonders fruchtbar zu sein scheint, und habe mir daher für die Nachfolge H. eine dortige Kraft geben lassen; ich sehe, daß ich einen ausgezeichneten Kollegen an ihm gewonnen habe.

Die Zahl der Studierenden ist natürlich jetzt gering; Hörer in fortgeschrittenen Semestern habe ich nicht. Ich mußte seit 1939 ohne Ausnahme Vorlesungen halten, die dem Stand eines ersten oder zweiten Semesters angemessen waren. Meine Hörer sind Physiker, Chemiker, auch Ingenieure der Werften wollen manchmal noch etwas Mathematik lernen. Ich halte daher zur Zeit nur Vorlesungen in der an Technischen Hochschulen üblichen Art. Es ist ja selbstverständlich, daß ich die Leute, die sich nicht als wissenschaftliche Mathematiker ausbilden wollen, nicht mit abstrakten Theorien quälen darf.

Nachdem ich nun von den Mathematikern erzählt habe, kämen in der Reihenfolge der wissenschaftlichen Verwandtschaft die Astronomen und dann die Physiker dran. Die hiesige Sternwarte ist, wie Ihnen wohl Herr U. (der den Nachlaß verwaltet) in Göttingen erzählt haben wird, vor einigen Jahren aufgehoben worden, die Direktorstelle war schon nicht mehr besetzt, als ich nach Kiel kam. Der damalige a.o. Professor S. ist kürzlich (als Ordinarius an der Universität Posen) gestorben. Während des Krieges hat sich ein junger Astrophysiker, Dr. B., habilitiert, der jetzt auch nicht hier ist. Von den Physikern kennen Sie Herrn U., er leistet in der Nähe Dienst und hält daher keine Vorlesungen. Der Lehrstuhl für Experimentalphysik, dessen Inhaber nach Göttingen berufen wurde, ist kürzlich neu besetzt worden.

Unter solchen Umständen scheint für die eigene Forschungsarbeit viel Zeit zu sein. Zum Teil trifft das zu. Ich habe jetzt zum ersten Mal in meinem Leben diejenige, auch auf materieller Sicherheit beruhende Freiheit des wissenschaftlichen Forschens, aus welcher allein gute Resultate der gelehrten Arbeit erwachsen können. Aber es ist ein Unterschied, ob das ein Dreißigjähriger oder ein Fünfzigjähriger erreicht hat. Daß aber jede wissenschaftliche persönliche Anregung fehlt, keine Diskussion über mathematische Probleme mit Kollegen, kein Widerhall eines interessierten Nachwuchses, das ist schade. Trotzdem tue ich mein Möglichstes. Selbstverständlich machen auch die äußeren Schwierigkeiten des heutigen Lebens viel aus. Ich will davon absehen, daß ich bis vor kurzem mit umfangreichen Rechnungen beauftragt war, die mich täglich viele Stunden an die Rechenmaschine fesselten. Meines nicht guten Gesundheitszustandes halber habe ich mich von dieser Nebenarbeit wieder befreien lassen.

Auch die Ernährungslage spielt natürlich herein. Für die wissenschaftliche Gedankenarbeit sind gewisse anregende Mittel eine sehr fördernde Gabe. Ich war mein Leben lang ein leidenschaftlicher Teetrinker und entbehre ihn jetzt sehr. Mit ein paar Tassen könnte ich meine tägliche Arbeitsleistung verdoppeln. Auch als Familienvater hat man jetzt mehr zu tun, da die Frau ohne Hausgehilfin einfach nicht mehr alles leisten kann. Einundeinhalb Jahre lebte ich als Junggeselle, nachdem ich, wie auch andere Kollegen, meine Familie auf die Aufregungen von Ostern 41 hin nach Süddeutschland zu Verwandten geschickt hatte. Seit einem halben Jahre haben wir das Familienleben wieder aufgenommen...

(Rest des Briefes fehlt)


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Letzte Aktualisierung am 28. Januar 2018

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