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Home Verlust der Wohnung und Abreise aus Kiel (Juli 1944) 28.7.1944: An der Gepäckaufgabe 30.7.1944: Vom undichten Dach und geretteten Brockhausbänden
 Materialien
 Dr. Fritz Lettenmeyer (1891-1953)
 Aus Tagebüchern
 Verlust der Wohnung und Abreise aus Kiel (Juli 1944)

29.7.1944: Büchersuche im Trümmerberg

9-ca. 10.30 Uhr Alarm. Ich ging mit Lore zu dem Südeingang des Bunkers (durch den Martiusgarten hindurch), weil Lore lieber dort hineingeht. Vor dem Eingang stand eine Riesenschlange, 6-8er-Reihen, bis zur Straße hinaus. (Düsterbrooker Weg, der Eingang zum Bunker war in den vom Martiusgarten abfallenden Steilhang eingebaut.) Ich wartete einige Zeit und kehrte dann allein um; Lore mischte sich unter die Schlange. Nachdem ich den "Berg" wieder überstiegen hatte, war ich so erschöpft, daß ich den Koffer in unserem Keller deponierte und ohne Koffer (natürlich immer mit dem Rucksack, der die wichtigsten Dinge enthielt) auf dem Weg durch die Gärten zum N-Eingang des Bunkers ging. Ich blieb außen in der frischen Luft. Es kam kein Angriff. Im Lauf des Wartens strömte plötzlich aus dem Bunker eine große Anzahl von Matrosen und Soldaten, offenbar die "Einsatztruppe"; diese Leute stehen immer am weitesten vorn. (Auch ich strebte stets danach, im Bunker in der Nähe des Tores zu sein, der besseren Luft wegen und, um bei Entwarnung rasch herauszukommen.) Man hatte sie angeblich herausbefohlen, damit sich die Luft besser erneuern könne.

So kam ich erst gegen 11 Uhr wieder in die Wohnung. Mittags war ich im Geologischen Institut, wo ich ein Zimmer bekommen soll, es braucht nur noch die Erlaubnis von Professor G., aber das hat keine Schwierigkeit, da er dort ausdrücklich hinterlassen hat, man solle mich aufnehmen. Nachmittags begann ich, Bücher zu suchen. Ich kletterte vom 1. Stock aus zwischen die herabgestürzten Fußböden und Zimmerdecken hinein. Es gibt keine "Tritte". Man muß sich an die versperrt daliegenden Balken, ein wirres Durcheinander von meist zersplitterten Hölzern und Trümmern, anklammern. Es ist scheußlich, weil überall Nägel herausstehen. Nach oben wird der Spalt immer enger, zersplittertes Holz ist eingeklemmt, überdeckt mit Trümmern der Gipsplatten, welche von den Wänden und Decken stammen. Ich fand ziemlich viele Bücher, wir stapelten einige Dutzend auf und allmählich bekam ich sogar 18 von den 21 Brockhaus-Bänden zusammen! Das hat mir am meisten Freude gemacht! Sie waren fast trocken, nur bös auseinandergestülpt oder in aufgeschlagenen Stellungen eingeklemmt. Es war oft nicht leicht, solch einen Band herauszuziehen, wo ich selbst im Gewirr eingeklemmt hing und nur eine Hand frei hatte.

Später kletterte ich von oben (3. Stock) den "Einsturzberg" hinunter und kam zu Büchern des Bücherschrankes. Die waren aber alle bös durchnäßt. An der erstgenannten Stelle (vor dem unter dem Musikzimmer liegenden Zimmer des 1. Stockes in den unter meinem ebenerdigen Arbeitszimmer liegenden Teil des Trümmerberges eindringend) suchte ich gegen Abend nochmals eifrig nach den übrigen Brockhausbänden, jedoch umsonst. (Ich hatte stets den leichten Kletteranzug an.) Gegen 18 Uhr begann es wieder stark zu regnen. Schon vorher war es trüb geworden und daher zu dunkel für das Suchen zwischen den Trümmern.

Ich aß mit Lore erschöpft in B.'s Küche (das ist W.'s Küche, weil B. jetzt die ganze Wohnung im Erdgeschoß benützt). Wir bekamen guten Kaffee und einen Topf mit sehr gutem Fruchtsaft. Alles goß ich in mich hinein. Mein Hemd war den ganzen Tag nicht trocken geworden. Untertags war auch Frau M. erschienen. Sie hat sich aber nur darum gekümmert, daß ihr Gärtchen richtig abgeschlossen war, und plagte die Anwesenden, ihr das Schloß so abzuschrauben, daß man es wieder anbringen könnte. Sie will ihre Beeren ernten und es soll nichts gestohlen werden. Dabei hat sie mir erzählt, sie habe in den letzten Tagen (bei ihrer verheirateten Tochter) 110 Pfund Beeren eingekocht. Ich sagte nur trocken: "Erzählen Sie das nicht neidischen Leuten, sonst werden Sie erschlagen." Aber sie hat es nicht verstanden.


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Letzte Aktualisierung am 28. Januar 2018

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